Ingrid Hartmann (2004)
Seit Freitag, den 06.08.2004 bin ich in Nürnberg, im Comboni-Missionshaus untergebracht und nehme an Exerzitien „auf der Straße“ teil. Exerzitien sind Übungen, sich vom Herzen, von Gott her leiten zu lassen. Gott kann an jedem Ort auf uns warten.
Wir, 11 Teilnehmer und 4 Begleiter, sind auf der Suche nach Gott. Tagsüber suchen wir allein Orte und Plätze auf (z.B. Bahnhof, Notschlafstellen für Obdachlose, Gefängnis, Krankenhaus, Kirche), an welchen wir hoffen Gott zu begegnen. Am Abend tauschen wir uns in Gruppen über unsere Erfahrungen aus.
Ich nehme an diesen Exerzitien teil, weil ich seit Jahren viel Schmerz aus meiner Jugendzeit in mir spüre. Viele meiner Freunde/innen sind an übermäßigem Alkohol- und Drogenkonsum gestorben oder haben sich umgebracht, weil sie aus ihren Depressionen keinen Ausweg fanden. Ich habe den Absprung geschafft, mein Leben ging weiter und für meine Trauer blieb keine Zeit.
In der Altstadt werden meine Erinnerungen durch Obdachlose, Punker und Drogensüchtige wieder wach. Ganz tief falle ich in meine Trauer und in meine Ängste. Ich erfuhr damals von Männern viel Gewalt und Demütigung.
Ich weine auf dem Bahnsteig, trauere in Kirchen und tanke wieder Kraft an den Steinen der Burg- und Stadtmauer. Unter vielen Menschen, bleibe ich „auf der Straße“ ganz allein. Nach 6 Tagen Traurigkeit und Einsamkeit habe ich große Sehnsucht nach menschlicher Nähe und sozialen Kontakten.
Gegenüber der Lorenzkirche sitzt ein Mann mit Hund und verkauft „Straßenkreuzer“ (Nürnberger Sozialmagazin). Ich kaufe ein Heft und wir kommen ins Gespräch. „Was machst du ganz alleine hier?“ – „Ich schaue mir meine Vergangenheit noch mal an und trage meine Traurigkeit spazieren.“ „Weshalb?“ Ich erzähle ein bißchen. Der Verkäufer nickt verständnisvoll und erzählt von seiner Vergangenheit. 1 ½ Stunden sitze ich neben ihm auf dem Kopfsteinpflaster und fühle mich angenommen und geborgen.
Zum Abschied reichen wir uns die Hände und schauen uns dabei lange und tief in die Augen. In diesem Moment spüre ich ein Band von meinem zu seinem Herzen. „Ich würde mich freuen, wenn du morgen wieder vorbeikommst. Ich verkaufe immer hier.“
Ich freue mich auf unser Treffen und von weitem schon heißen mich seine lachenden Augen willkommen. Wir haben uns viel zu erzählen und trinken gemütlich Kaffee auf dem Pflaster des Lorenzplatzes. „Kommst mich heute abend besuchen? Ich habe eine eigene Wohnung, nichts Tolles. Aber ich bin stolz darauf, nachdem ich mehrere Jahre „auf der Straße“ gelebt habe.“ Mit jedem Pulsieren meines Herzens spüre ich, wie meine Ängste vor Männern von meinem Körper Besitz ergreifen: „Nein, das kann ich nicht!“ – „Warum?“ Mit tränenerstickter Stimme erzähle ich. Er schaut mich mitfühlend an: „Es ist dein Vertrauen, das kaputt gegangen ist.“ Ich nicke. Alleine gehe ich eine Stunde weinen und beten in die Klara-Kirche. Als ich wieder zurück bin, fragt er: „Kommst mit auf die Wöhrder Wiesen? Da kann der Hund sich austoben und wir können in den Schatten liegen.“ Spontan stimme ich zu. Dort angekommen, sitzen wir uns schräg gegenüber und mein Begleiter umfaßt sanft meinen linken Knöchel. Ich erschrecke: „Laß das!“ Meine Angst ist wieder da und ich löse sofort seine Hand von meinem Fuß. Seine Berührung empfand ich jedoch als sehr angenehm.
Sie hat mich ganz tief berührt. Er läßt mich, schaut mich traurig und verständnislos an. Ich breche unser Schweigen: „Ich will dir nur eine Freundschaft anbieten, mehr nicht.“ Beim Abschied spüre ich, wie verletzt er ist.
Auf meinem langen Nachhauseweg – ich laufe alle Wege in Nürnberg barfuß – kommen mir wieder viele Tränen. Plötzlich sehe ich mich wie vor vielen Jahren bei einem älteren Freund sitzen und ich berühre mit meiner Hand seinen Knöchel, genauso, wie es vor einer Stunde dieser Mann bei mir getan hat. Jetzt bricht mein alter Schmerz aus meiner Seelentiefe. Ich erinnere mich. Es war ein Hilfeschrei. Ich war damals am Ende, wußte nicht mehr, wie es weitergehen soll. Jetzt verstand ich die Geste von meinem Begleiter und wußte auch, warum sie mich so tief berührt hat.
Am Tag darauf, war er nicht auf dem Lorenzplatz, so ging ich zu ihm nach Hause. Er freute sich sehr über meinen Besuch und erzählte mir von seinen Depressionen, von seiner Todessehnsucht, weil er keine Chance mehr sieht, sein Leben finanziell in den Griff zu bekommen. Wir sprechen über fehlende Geborgenheit und Liebe und fehlende Sozialkontakte. „Ich hatte gestern nur so große Sehnsucht, die Nähe und Wärme eines Menschen zu spüren, der mich versteht.“
Jetzt konnte ich mein tiefes Gefühl für diesen Mann angstfrei zulassen. Ich bin mir selbst in ihm begegnet. Mit Worten kann ich mein Gefühl nicht beschreiben. Ich spüre ein Band von Herz zu Herz, Nähe, Liebe, Vertrauen, etwas in mir ist heil geworden. Ich danke Gott von Herzen, dass ich ihn erkennen durfte.
Meine Gottesbegegnung hat meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Es ist für mich ein riesengroßes Geschenk, Schritt für Schritt meine Lebensaufgabe zu erkennen und zu erfüllen. Zwischen dem „Straßenkreuzer-Verkäufer“ und mir ist eine Freundschaft gewachsen und wir unterstützen uns gegenseitig auf unserem Lebensweg.
Seit meinen Exerzitien weiß ich, wie unsere Ängste und ungelösten Schmerzen unser Vertrauen, sprich unseren Glauben (Gottvertrauen) verhindern.
Letztendlich haben wir Angst vor uns selbst. Ich war bereit zurück zu schauen, tief in mich zu blicken und genau dort fand ich IHN. Mir fällt dazu der Jakobsbrunnen ein, oder „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
Theoretisch war mir dies alles sonnenklar, bevor ich nach Nürnberg ging. Dies jedoch erfahren zu dürfen, zu spüren an Leib und Seele, war ein nicht in Worte zu fassendes Geschenk.