Von Alexander Dickschen
Wer nach Oberhausen kommt und in der Fußgängerzone der Stadt steht, findet dort eine Mischung aus günstigen Textilien, Plastik, Gegenstände des täglichen Bedarfs und nicht viel mehr. In der Fußgängerzone von Oberhausen versteht der städtische Betrachter unmittelbar, dass er hier nicht im kommerziellen Zentrum der Stadt steht. Das befindet sich vier Kilometer außerhalb, heißt CentrO und maßt sich an, die „neue Mitte“ der Stadt zu sein. Diesen Teil von Oberhausen direkt neben der großen Tonne, dem Gasometer, kennen die Meisten. Aber was genau kennt man, wenn man eine Shoppingmall kennt?
Mich führte das geistliche Programm des Cusanuswerks in diese Stadt. „Urlaub in Oberhausen mit Straßenexerzitien für eine ganze Woche“, fragte mein Schwiegervater „ist das denn Urlaub?“ Sicher, ich hätte mir glorreichere Stadtnamen wie Berlin oder Köln gewünscht und ein weiches Bett. Aber wozu? Rückblickend ist Oberhausen ein wahres Kleinod für Straßenexerzitien.
Straßenexerzitien – geistige Übungen in den Straßen einer Stadt – sind ein neueres Format, welches sich zwar an den klassischen Exerzitien orientiert, aber die geistige Einkehr nicht weit draußen im Grünen hinter 1000-jährigen, klösterlichen Mauern stattfinden lässt, sondern mitten im Alltag einer Stadt. Der Ausgangspunkt der Exerzitien ist die Geschichte von Moses, der am Dornbusch Gott begegnet. Dabei zieht er die Sandalen aus, weil er merkt, dass der Boden auf dem er steht, „heilig“ ist.
Was genau heißt „heilig“ in diesem Moment?
Gibt es solche Begebenheiten auch in unserem Leben?
Ja, sie lassen sich auch im Alltäglichen wiederfinden: Die alte Frau, der ich eine Zeitung abgekauft habe und die mich den Tag über immer wieder freundlich grüßt, wenn wir uns begegnen; der Blick von Hochofen 5 auf das grüne Ruhrgebiet und den strahlend blauen Himmel; die Führsorge zwischen zwei Kolleginnen, die einander umarmen nach einer Auseinandersetzung. Es gibt viele heilige Orte im Alltäglichen, in den Höhen und Tiefen der menschlichen Existenz. Die Frage ist vielleicht weniger, ob es heilige Orte in unserem Leben gibt. Es gibt sie. Die Frage ist mehr: Warum laufen wir an brennenden Dornbüschen vorbei, ohne sie zu bemerken?
Bei den Straßenexerzitien ist der langsame Gang, ganz im Hier und Jetzt sein die immerwährende Übung. Die neue Stadt darf ohne eingeschliffene Muster entdeckt werden. Die Struktur des Tages mit Morgengebet und Frühstück, mit viel Zeit draußen und schließlich mit Abendandacht, Abendessen und Austauschrunde hilft, das Erlebte genauer zu betrachten. Ja, es gibt hier viele bedürftige Menschen. Ja, die Hauptstraße ist voller Euroshops, Spielhöllen und Leerstand. Ja, die „schönen Läden“ sind alle woanders. Aber was macht das mit dir?
Am Anfang war ich wütend, dass ein Gemeinderat so dumm sein kann, ein Shoppingcenter zu bauen, das die Innenstadt ausbluten lässt. Ich war entsetzt, wie man die Entscheidungsmacht über den Handelsplatz einer Stadt in die Hände eines einzigen Mall-Betreibers legen kann.
Doch was genau ist verloren? Ich entdeckte, dass es auf der Marktstraße von Oberhausen alles lebensnotwendige gibt. Die Gesichter der Menschen auf der Marktstraße wirkten entspannter als im CentrO. Vielleicht hat es auch etwas für sich, dem grenzenlosen Konsum-Mammon eine Kathedrale vor den Toren der Stadt gebaut zu haben. Das schafft Zeit und Raum für Begegnungen in der Marktstraße. Vielleicht auch für heilige Orte mitten in der Stadt.