Von Uta Andrée
Ich sitze in der U-Bahn nach Billstedt, ein Brennpunkt-Viertel von Hamburg. Am Abend zuvor habe ich mir die Route genau überlegt. Der Bildschirm mir gegenüber spult viel zu schnell Nachrichten, Kulturhinweise, Werbung und sonst was ab. Dann: „Spruch des Tages von Bob Dylon: Man sollte nie dort sein, wo man nicht hingehört (aus dem Song The Ballad of Frankie Lee and Judas Priest).“ Ich ertappe mich, dass ich den Spruch als ein Zeichen deute, obwohl ich doch fest überzeugt bin, diese ganze Achtsamkeit und Bedeutungsheischerei lächerlich zu finden. Was will ich in Billstedt?
Schließlich übergebe ich mich dem Projekt, auf das ich mich heute einlassen wollte: Du bestimmst nicht den Weg, es wird dich irgendwo hinführen.
Eine halbe Stunde später auf dem Hansa-Platz in St. Georg – ich setze mich auf die schmuddeligen Stufen des Brunnens zwischen die Männer, die dort mit ihren Bierflaschen sitzen. Der links neben mir hat Stöpsel im Ohr und wippt im Tackt irgendeiner Musik, rechts neben mir ein Afrikaner mit verschwommenen Augen und Rastazöpfen, ein anderer mit einer großen Lücke, wo einst die Schneidezähne waren, läuft auf Socken vor uns auf und ab. Seine Eckzähne stülpen sich merkwürdig über die Unterlippe. Einmal bringt er dem Mann mit den Stöpseln ein Bier, stellt es neben ihn und schaut ihn fürsorglich an. Ich denke: Vielleicht sind das Vater und Sohn, vom Alter haut das hin. Wie absurd: Der Vater versorgt den Sohn mit Alkohol. Mehr kann er ihm nicht geben, mehr Gutes kann er ihm nicht tun. Sie sprechen in einer fremden Sprache miteinander.
Christus finden auf der Straße, wie soll das gehen? Ich sitze da, schlürfe meinen Kaffee, starre geradeaus, es wäre unpassend irgendjemanden anzusprechen, jeder ist in seine Welt versunken. Ich versinke mit in das Schweigen der Männer um mich herum. Nach einer Weile gibt es einen Blickkontakt zu dem Afrikaner, er wirft mir ein anzügliches Augenzwinkern zu und ich spüre echten Widerwillen. Was mache ich hier eigentlich? Doch ich bleibe. Ohne Geld, ohne Rucksack, ohne Handy, ohne Schuhe, ohne jemanden zu grüßen. Na wenigstens habe ich mich an die Sache mit dem Rucksack und dem Handy gehalten. Und gegrüßt habe ich bisher auch niemanden und mir ist auch nicht danach zumute. Tiefes Schweigen, es fängt an gut zu tun. Einfach dasitzen. Es muss ja nicht gleich beim ersten Mal klappen mit dem Christus. Ich entspanne mich.
Der Mann mit den Draculazähnen zerreißt ein Brötchen und wirft es den Tauben zu. Ich bin gerührt. Er hat nichts außer ein Brötchen und das teilt er mit diesen nichtsnutzigen Kreaturen. Die Tauben gurren vor uns herum. Jetzt hat der Jüngere einen Stöpsel herausgezogen. Das Ohr zu meiner Seite ist jetzt frei. Dann dreht er sich unwillkürlich zu mir und sagt: „My brother – no shoes. Do you speak English?“ – Ich bin total perplex. Hat er gemerkt, dass ich andauernd über diese Sache mit den Schuhen nachdenken muss. Gibt es so etwas wie Gedankenübertragung, einfach, weil zwei Menschen auf einer Treppe nebeneinander sitzen? „Where are his shoes?“ „Here shoes, better without shoes. He problems with leg and knee, my brother is very ill. Walking without shoes is good for him.” Meine Chance: ich nestle an meinen Schnürsenkeln herum: “I can try.” – “No, no. The shoes are here.” Dem neben mir ist es unangenehm, dass ich meine Schuhe ausziehe, vielleicht denkt er, ich will dem Draculamann meine Schuhe schenken. „I want to try“, wiederhole ich und stelle mich auf die Pflastersteine. Ja, es fühlt sich gut an – Erdung.
Dann geht alles ganz schnell, ich bin plötzlich mitten drin. Die beiden Männer kommen aus Rumänien. Sie erzählen von der Schwierigkeit, dass in Deutschland sonntags die Geschäfte geschlossen sind. Wie soll man sich da versorgen? Der Ältere spricht kein Englisch. Aber er will wissen, über was wir sprechen. Der Jüngere muss ihm alles übersetzen. Der Ältere sagt „Bohnenkamp“. Der jüngere erklärt mir: „Alkohol, Bohnenkamp in the morning.“ Sie lachen. Ich erfahre noch viel, darüber, dass man beim Arbeitsamt keine Chance hat, wenn man kein Deutsch spricht, dass deutsche Menschen kalt sind – „sorry“ –, dass man nicht duschen kann. „Only shower from heaven, from God.“
Jetzt wird der Afrikaner zu meiner Rechten aktiv. Er reicht mir wortlos eine Zigarette rüber. Wie gut, dass ich immer noch nicht aufgehört habe zu rauchen. Der Blick ist nicht mehr so einseitig wie beim ersten Mal, aber seine Worte gehen genau in die Richtung, die mich anwidert: „You must fuck, everybody must fuck. I can come with you.“ „Nee, will ich nicht“, versuche ich mit jeder Faser meines Körpers auszudrücken. “Schau mich an, ich habe meine alten Gartenklamotten an, ich bin kurzhaarig und hässlich. Wie kannst du bloß die Frau in mir sehen?“ denke ich und sage: „Who are you?“ So lerne ich Carlos kennen, der nur noch einen letzten Versuch macht und mir körperlich auf die Pelle rückt (nachdem es mit dem Blick und den Worten nicht geklappt hat, anscheinend sein letztes Register). Ich schiebe ihn weg, dann hat er’s kapiert. Und wie zum Zeichen nimmt er meine Hand, reibt sie zwischen seinen und lässt sie dann endgültig los. Was er von da an erzählt, sind Lebensweisheiten: „You are a woman, you must be carefull“ oder „God is here in our heart, Muslim or Jesus or other, all in the heart, Halleluja.” – “Halleluja”, bekräftige ich. Carlos hat drei Kinder. Wo er herkommt, verrät er nicht: “Africa”, das muss reichen. Und woher komme ich? „Hamburg“ – das muss reichen. Carlos will noch einmal beweisen, dass er Herr der Sache ist und zieht ein dickes Blättchen aus seiner Jackentasche, doch irgendwie findet er weder Tabak noch Gras. Also bleibt es bei einer weiteren Zigarette.
Die nächsten Stunden vergehen wie im Flug. Ich lerne noch Kalle kennen. Er hat schon die ganze Zeit beobachtet, was wir machen und besprechen. Als ich mit meinem zweiten Kaffee von der Bäckerei zurückkomme, schaut er mir entgegen: „Komm man zu mir, ich bin ein echter Hamburger Jung.“ Es kommt mir vor, als ob die Männer um mich herum jetzt darum buhlen, wer meine Aufmerksamkeit bekommt. Kalle will auch etwas davon abbekommen. Auf Deutsch ist es noch viel einfacher. Irgendwie ist es wie bei den Geburtstagsbesuchen zum achtzigsten: Lebensgeschichten. „Frau Pastorin, hören Sie mir zu, Sie sind meine Zeugin, eine die mir zuhört.“ Aber, das wissen die hier doch gar nicht: Wer ich bin und was ich will. Weiß ich vielleicht selber gar nicht so genau.
„Das Radio haben sie mir geklaut, brauch ich immer zum Einschlafen, und dann bin ich kurz weggenickt und dann war’s weg. Aber ich hab ein Zeichen, ich würd’s wieder erkennen und dann gibt’s echt was auf die Fresse. Ich bin kein Schläger, aber das geht zu weit.“ Ich fühle mit ihm mit, bin richtig wütend auf den Dieb, will dem auch eins auf die Nase geben, weil er Kalle beklaut hat. Und dann fühle ich das Geld in meiner Tasche; 53,70€ sind noch da. Was kostet ein neues Radio?
Kalle erzählt von seiner blinden Mutter, von der Kindheit in der Langen Reihe, von Missbrauch und Gewalt. Von seinem Sohn, der schon dreißig ist und der nichts mehr von ihm wissen will. Von seiner Familie, die er nicht mehr finanzieren konnte (120 Mark kostete der Kindergarten!) und dass er nicht mehr drinnen leben kann – eingesperrt. „Du willst das wissen, wie wir hier so leben auf der Straße?!“, vermutet er plötzlich. Ich spüre, dass alle um mich herum rätseln, wieso ich aufgetaucht bin. „Du kannst auch mal bei mir schlafen. Ich kann dich beschützen. Ich lache: „Du hast ja noch nicht mal dein Radio beschützen können.“ – Empörung: „Doch, mit mir würde dir nichts passieren.“
Eine Frau taucht auf. Sie will eine Zigarette. Die betteln sich noch mehr gegenseitig an, als dass sie die Passanten anquatschen, denke ich. Es war nicht das erste Mal in den vergangenen drei Stunden, dass jemand wegen einer Zigarette kam. Manchmal mit, manchmal ohne Erfolg. Die beiden gehen liebevoll miteinander um. Kalle reicht der Frau den Tabakbeutel. „Ist Scheiße, ist ja auch ‘ne Droge“, sagt sie. Sie sieht ausgezerrt aus. Dann tätschelt sie uns beide, wie zum Segen und geht zu ihrer Gruppe zurück.
Kalle erzählt und erzählt. Davon dass Frauen oft Stress machen, dass alle nur Sex wollen. „Aber wozu ‘ne Muschi“, sagt er, „ich hab zwei gesunde Hände. Das kann ich selber. Dann gibt’s keinen Stress.“ Und von seiner Tochter, die auch gestorben ist, wie seine Schwester. Und dass es da ein gemeinsames Grab in Rahlstedt gibt. „Aber wenn Gott mich holt, dann ist es gut“, sagt er. Wie kommt es bloß, dass sie hier alle über Gott sprechen? Steht es mir auf der Stirn geschrieben, dass ich hier bin, um Gott zu treffen? Bin ich es, oder ist es schon da? Es ist schon da. ER ist schon da, wird mir plötzlich klar. Hier ist ER.
Und dann wird es Zeit zu gehen. Gerade hat der eine Rumäne eine Plastiktüte mit leeren Bierflaschen zu uns gestellt. Wir sollten darauf aufpassen. War ich die Garantin, dass der Schatz behütet wird, oder kann man es auch Kalle zutrauen, dass die Flaschen nicht den Besitzer wechseln? „Ach komm, es ist deren Welt“, denke ich, ziehe meine Schuhe wieder an und verabschiede mich von Kalle und zucke ein letztes Mal, ob ich ihm nicht den zwanzig Euro Schein für ein neues Radio zustecken soll.
Auf dem Hinweg in die Stadt in der S-Bahn, habe ich mir all die Leute angeschaut, die auf ihren Smart Phones herumtappten und gedacht: „Und was soll ich jetzt machen?“ Auf dem Rückweg bin ich voller Gedanken und Sorgen: „Wird Kalle gut auf die Flaschen aufpassen? Wird der Rumäne böse sein, wenn er wieder kommt und ich bin nicht mehr da? Wie gut, dass Kalle nichts von mir erwartete, als dass ich seine Tränen sehe und aushalte, und wie gut, dass wir kein neues Radio gekauft haben. Das hätte alles kaputt gemacht.
Am Abend beim Gespräch in der Gruppe bekommt dieser Tag seinen krönenden Segen: Gott war da, und er hat sich mir vorgestellt, als der, der mich beschützen will.