Exerzitien in einer Notunterkunft für Wohnungslose in Kreuzberg – auf dieses moderne Abenteuer ließen sich fünf Männer und zwei Frauen aus Münster ein. Eingeladen hatte die Berliner Kirchengruppe „Ordensleute gegen Ausgrenzung“. Schwester Petra Maria Tollkötter berichtet über die religiöse Einkehr in ungewöhnlicher Umgebung.
Berlin-Kreuzberg, Görlitzer Park. „Auf dich haben wir gewartet“, begrüßen mich fröhlich zwei angetrunkene Wohnungslose. Sie bieten mir Bier an und einen Platz auf der Parkbank. Wir kommen ins Gespräch, reden über dies und das, nichts Weltbewegendes. Trotzdem ist plötzlich diese Ebene da, ganz leicht, unkompliziert und echt. Diese beiden aus dem Görlitzer Park haben keinen Stress (mehr) damit, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Sie reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, gerade heraus, ehrlich, direkt – und helfen mir, es auch zu tun, bis es nichts mehr zu verlieren gibt.
Zehn Tage übernachteten wir in einer Notunterkunft für Wohnungslose. Jeden Abend trafen sich die Exerzitien-Teilnehmer und tauschten ihre Erfahrungen aus. Ausgangspunkt war die biblische Erzählung vom brennenden Dornbusch: Gott öffnet Mose die Augen für seine lebendige Gegenwart in einem trockenen, fruchtlosen, stacheligen und scheinbar überflüssigen Dornbusch. Er erklärt diesen Ort zum „Heiligen Boden“ und bittet Mose seine Schuhe auszuziehen: sich kleiner machen, die „Fußsicherheit“ aufgeben, wirklichen Boden spüren. Und hinschauen auf die mich umgebende Realität, wahrnehmen, was sich in mir regt.
Unsere Gastgeber hatten uns sogenannte „Heilige Orte“ in Kreuzberg aufgelistet, Plätze, an denen sich die Ausgegrenzten unserer Gesellschaft aufhalten: Strich, Knast, Sozial- und Arbeitsamt, Suppenküche und Drogenumschlagsplatz. Sich diesen Menschen zu nähern und zu spüren, was sich in mir regt und das in Verbindung bringen, mit dem, was ich als Christin „weiß“: Gott ist in all diesen Menschen anwesend. Für jeden von uns wurde ein anderer Platz zum „Heiligen Ort“. Mich hat in diesen Tagen sehr beschäftigt, wie Jesus so intensiv mit Menschen in Kontakt treten konnte, obwohl er doch so anders war als sie. Für mich bedeutet das: Wo liegt die Ebene des Kontakts mit Wohnungslosen, auf der wir den Graben überwinden, der scheinbar so selbstverständlich zwischen uns liegt? Wo ist die Ebene des Mit-Seins jenseits aller Schranken und Barrieren, die wir Menschen untereinander aufgebaut haben?
Mit diesen Fragen machte ich mich auf den Weg durch Kreuzberg. Einmal lädt mich eine Bettlerin vor der Hedwigskathedrale mit einer kleinen Geste ein, mich zu ihr auf den Boden zu setzen. Wir wechseln ein paar Worte, Glanz kommt in die sonst so ausdruckslosen Augen. Der Kontakt ist da. Dann drückt sie mir elf1 Groschen in die Hand: Ob ich ihr wohl einen Kaffee holen könnte? Sie kennt mich nicht und vertraut mir nach wenigen Minuten einen Teil ihres geringen Vermögens an. Ein Augenblick, der mich berührt. Nicht ich hatte diesen Menschen etwas zu geben, sondern sie beschenkten mich – leise, unscheinbar und unaufdringlich.
Diese und viele andere Begegnungen mit den „Armen“, den Ausgegrenzten waren gerade in ihrer Unscheinbarkeit und Einfachheit sehr bewegend, wurden mir zum „brennenden Dornbusch“. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob ich „weiß“, dass Gott in jedem Menschen anwesend ist, oder ob ich es mit einem Mal konkret spüre, erfahre und erlebe. Ich kann noch so viel über die Konsistenz von Wein wissen – erst wenn ich ihn schmecke, weiß ich wirklich, was Wein ist. Durch die zehn Tage „Herzensschulung“, wie ich die Exerzitien auf der Straße gerne nenne, hat sich meine Perspektive und der Blick auf Wohnungslose und die Menschen allgemein verändert. Außerdem verhalfen sie mir zu einer Solidarität jenseits meiner beruflichen Rolle – einer Solidarität, die wacher geworden ist für Situationen, in denen Menschen ausgegrenzt werden.
Erschienen in der Münsterschen Straßenzeitung „draußen!“ 10/2001