Von Regina Altendorfer
Dank einer spontanen Email an Christian, auf die ich umgehend eine freundliche einladende Antwort erhalte, führt meinen Mann Hubert und mich der Weg am Rosenmontag 2014 nach Berlin in die Naunynstr. 60. Drei Nächte und zweieinhalb Tage dürfen wir in der WG mitleben und bei Christian Straßenexerzitien machen.
Eine herzliche Begrüßung, eine Tischgemeinschaft am Abend dicht an dicht rund um zwei große Töpfe. Ich fühle mich wie daheim in der Runde der mir noch unbekannten Männer und Frauen, ganz selbstverständlich aufgenommen und dabei. Offene Gesichter und Worte, später eine Singrunde am kleinen Tisch in der Küche. In der Nacht – wie in den kommenden dort – schlafe ich gut, kann mich innerlich fallen lassen, obwohl ich sonst selten in einem Raum mit mehreren Menschen nächtige. Es passt – einfach hingefahren zu sein!
Christian gibt uns am nächsten Morgen einen ersten Impuls: Geht hinaus auf die Straße, in wacher Wahrnehmung – ohne „Geldbeutel“, z.B. ohne Geld, Handy oder „Papiere“ – ohne „Vorratstasche“ – ohne „Schuhe“ – ohne den Druck von Konventionen. Was ärgert dich, macht dich traurig, schmerzt? Erkenne dahinter deine tiefe Sehnsucht! Formuliere daraus deinen persönlichen Gottesnamen. Hubert und ich gehen los – jeder für sich. Am Ende des Tages kristallisiert sich für mich im gemeinsamen Austauschgespräch der Name: „Du, für den ich kostbar bin, funkelnd kostbar…“ heraus. Die Frage von Christian: „Wie hat eure Mitte, die Liebe, diesen Tag erlebt?“ verblüfft mich- so etwas wurden wir noch nie in Exerzitien gefragt. Eine neue Dimension, eine Herausforderung.
Die Mitte der WG dürfen wir dann im persönlichen Austausch über die letzte Woche und in der Mahlfeier am Dienstagabend erleben. Schon viele Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte habe ich keinen so selbstverständlichen geschwisterlich gefeierten Gottesdienst erlebt, in dem das Sakrament eine offene Tür für alle ist, in dem ich als Frau angesprochen werde, mich nicht nur implizit mitgemeint fühlen darf. Ein tiefes Aufatmen geht durch mich: Das, wie ich Kirche, Reich Gottes ersehne, gibt es – ganz konkret – hier!
Am Aschermittwochmorgen dann ein weiterer Impuls für den Tag auf den Straßen Berlins: „Geh über die Grenze hinaus! Halte Ausschau nach deinem Dornbusch, zieh dann die Schuhe aus – am besten wirklich – und frage dann: „Ich suche Gott!“ Es gibt viele Begleiter und Begleiterinnen auf der Straße, Engel, die dir weiterhelfen. Wenn du offen bist und dich führen lässt, dann kannst du sie ganz schnell finden!“ Das letztere ermutigt und berührt mich. Ich gehe hinaus und sehe ganz viele Kinder: ganz kleine in Krabbelgruppen, Kindergartenkinder. Ich sehe zwei wunderschöne Prinzessinnen durch ein Fenster hindurch. Sie sitzen gerade am Tisch mit den anderen und machen Brotzeit: Prinzessinnen am Aschermittwoch. Mir fällt die Clownausbildung ein, die ich gerade mache: Der Clown als Gegenteiler: Prinzessin sein, wenn andere in Sack und Asche gehen. Mir fällt ein, dass ich als kleines Mädchen auch so ein Kleid, von meiner Mutti selbstgenäht, anhatte: „Du, für den ich funkelnd kostbar bin!“
Da ich die Kinder selber nicht ansprechen kann, setze ich mich woanders auf eine Parkbank neben einen „Engel“ mit langen grauen Haaren. Wir schauen gemeinsam in geraumen Abstand auf spielende Kinder in einem Kindergarten. Auf meine Frage: „Ich suche Gott!“ schaut er mich mit seinen blauen Augen offen an: „Das kenne ich! – Ich gehe auch zur Kirche.“ Dann erzähle ich, dass ich auf der Suche nach dem Gott bin, für den alle kostbar sind und dass ich mich nicht traue, die Kinder direkt anzusprechen und er sagt mit freundlich sanfter Stimme. „Einfach hingehen!“ —— „ Höflich fragen und einfach hingehen!———-“ Dann verabschiedet er sich und wünscht mir noch einen schönen Tag. Ich bleibe zurück mit einem warmen gelassenen Herzen.
Ich werde an diesem und am nächsten Vormittag noch an weitere Orte und zu anderen Menschen geführt. Ich ziehe die Schuhe meiner Zurückhaltung und Schüchternheit aus. Ich fühle mich im Innersten bestätigt in dem, was ich gerade lebe – in meinem Beruf an der Seite von Kindern, Jugendlichen, Menschen mit Handicap und deren Angehörigen, – in der Ausbildung als Clownin, die ihre Gefühle 100% lebt und offenbart und in allem das Gute und Schöne sieht, in meiner Ehe, in meinem kontemplativen Weg.
Beim Frühstück am Abreisetag sagt Christian: „Eine Fotografin hat mal Leute vor und nach den Straßenexerzitien fotografiert – wie sie sich verändert haben: Ihr schaut erholter aus!“ Ja, entspannt, lebendig, erfüllt bis an den Rand mit intensiven Eindrücken, dankbar und froh bis zum Platzen!
Danke den Menschen und Orten in Kreuzberg, denen wir begegnen durften!
Danke Christian für deine Begleitung, für dein großes und starkes Herz! Danke euch allen, die wir in der Naunynstraße kennenlernen durften. Ihr habt uns auf so vielerlei Weise beschenkt: Wie Weihnachten und Ostern zusammen!!! Für mich war es die bisher beste Entscheidung dieses neuen Jahres. Es gibt Utopien, die sind doch da! „Einfach hingehen!“ Wow!
Und jetzt – daheim: Ich bin gelassener, befreiter nach diesen Erfahrungen in der WG und den Straßen Berlins: „Einfach weitergehen!“ Immer wieder aufbrechen, der Sehnsucht Raum geben, mich trauen, Grenzen überschreiten, die Dornbüsche erspüren – den Schmerz über Leid und Unrecht genauso wie die Liebe, die sich da hineingibt – die Schuhe meiner Vor-Urteile und Beschränkungen ausziehen, mit nackten Sohlen Mensch werden unter Menschen, Schwester, Freundin.