Liebe Mitchristen!
Ein Erlebnis von heute Nachmittag hat mich bewegt, eine ganz andere als zuvor vorbereitete Predigt zu halten: Mein erster Weihnachtsgottesdienst war heute in Münster in einer Einrichtung, die sich um die sog. Brüder und Schwestern der Straße sorgt – in unserer Umgangssprache: um die Penner, Säufer, Fixer, Obdachlosen.
Auf dem Weg zum Kirchenraum kam ich an der Ostseite des Bahnhofs in Münster vorbei. Unübersehbar fiel mir die Gruppe eben dieser Menschen auf, die sich das ganze Jahr hindurch an diesem Platz aufhält. Heute, am Hl. Abend waren es auffallend viele: Männer und Frauen jeden Alters.
Im Gottesdienst mit ca. 80 solchen „Typen“ ging es mir beim Verlesen des Weihnachtsevangeliums an der Stelle: Und in derselben Gegend, sozusagen nebenan, waren Hirten wie ein Blitz durch den Kopf „Mein Gott, nur 150 m Luftlinie von hier habe ich eben die „Hirten“ gesehen! – Dort, hinter dem Bahnhof! Ausgerechnet „solchen“ wird vom „Himmel“ selbst DIE Neuigkeit von der Geburt des Messias, des Gotteskindes verkündet!“
Dazu muss man wissen: Zur Zeit Jesu hatten die Hirten etwa den gleichen sozialen Status wie die „asozialen“ Typen hinter allen Bahnhöfen, gemieden und gefürchtet von den sog. anständigen Menschen. Warum wird ausgerechnet denen die Weihnachtsbotschaft als erstes verkündet? Vielleicht, weil sie – verabscheut und gerade von den Frommen als unrein gemieden – keine Chance hatten, jemals in Kontakt mit dem Heil des Messias zu kommen. Aber, vielleicht hatten sie ein Herz prall voll mit der Sehnsucht nach einem besseren Leben mit Anerkennung und Wertschätzung.
Und da machte es in meinem Kopf und Herzen „Klick!“ Mir fiel leuchtend klar ein Erlebnis wieder ein, das ich in Hamburg – auch auf dem Hbf – hatte. Ich war zu der Zeit in HH auf einer Fortbildung. Priester und Ordensmänner und Frauen sollten sich trainieren, den auferstandenen Herrn nicht nur in Kirchen, Exerzitienhäusern und an sonstigen „frommen“ Orten zu suchen. Für Jesus Christus gibt es keine unheiligen Orte, er ist überall und vielleicht gerade dort, wo wir „geistlichen“ Menschen ihn gar nicht vermuten.
So schloss ich mich einer Gruppe an, die einen ganzen Tag auf dem Hamburger Hbf überraschende Begegnungen mit dem Auferstandenen suchen und erwarten sollten. Es war ein Tag mit wirklich überraschenden Erlebnissen und Begegnungen. Ich will hier und jetzt nur von der letzten und beeindruckensten Begegnung berichten:
Gegen Ende des Tages verspürte ich einen großen Hunger und Sehnsucht nach der ersten Maisonne vor dem Bahnhof. Mit einem Döner und einer Dose Bier bewappnet suchte ich draußen einen Sitzplatz an der Sonne. Auf einer Steinbank direkt in Sichtweite mit einer Gruppe oben genannter „Hirten“ fand ich einen Platz. Ich aß meinen Döner und trank genüsslich mein Bier.
Da löste sich plötzlich aus der Gruppe der „Penner und Säufer“ ein noch junger Mann, kam zu mir und fragte: „Darf ich mich dazu setzen?“ – „Ja natürlich, bitte!“ Und dann erzählte mir dieser Mensch unvermittelt und ohne weitere Umstände sein Leben: Wie er vor Jahren aus der sog. bürgerlichen Welt ausgestiegen sei, fast die ganze Welt bereist hatte – über Afrika und Indien bis ins Hochgebirge in Tibet! Irgendwann sei er dann ans Rauschgift gekommen und süchtig und abhängig geworden. Seit fast zehn Jahren habe er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, die ihn sozusagen für tot erklärt habe.
Vor einigen Tagen habe er – von Aids infiziert – von den Ärzten die Nachricht erhalten, dass er höchstens noch drei Monate zu leben habe. Und dann kam er zum Kern seines Anliegens: Schau, sagte er und wies auf die Gruppe, aus der er herausgetreten war, das sind meine einzigen Freunde, die ich noch auf der Welt habe. Und das ist gut so, dass ich wenigstens sie habe. Aber: wenn ich in einigen Wochen tot bin, dann wissen auch diese Kumpels nach drei / vier Tagen nicht mehr, dass es mich je gegeben hat! Kein Mensch auf der Welt denkt noch an mich! Ich habe doch auch hier auf dieser Erde gelebt! Es muss doch wenigstens einen geben, der um mich weiß, mit meinen Lebensträumen und Hoffnungen! Ich bin doch ein MENSCH!
Schwer atmend zeigt er mir dann seinen spindeldürren Arm mit vielen silbernen Armreifen und fuhr fort: Wenn ich dir einen dieser Reifen gebe, versprichst du mir, ihn in Erinnerung an mich zu tragen? Ihn eben nicht nur mit in deine „andere Welt“ zu nehmen, in die Nachttischlade zu legen und vielleicht zufällig einmal im Jahr eine Erinnerung an diesen Tag und einen der Penner in HH zu haben!
Nun war ich der, der mit großem Herzklopfen und schwer atmend neben diesem Menschen mit seiner riesigen Not saß! In solch einer mir bisher nie begegneten Not konnte ich doch um Himmelswillen nicht NEIN sagen! Aber, so ging es mir rasend schnell durch Kopf: Was werden meine Gemeindemitglieder denken, wenn ich auf einmal mit einen solchen Armreif auftauche, der ja nicht zu übersehen ist, den man auch am Altar und bei Spendung anderer Sakramente sieht! In diese Denkpause hinein fragte der Mann: Was überlegst du so lange? Willst du nicht? Ich erzählte ihm wer ich sei und meine Fragen, die mir durch den Kopf gingen und bat ihn mir noch einen Augenblick Zeit zu lassen. Denn, so sagte ich, ich möchte dich nicht belügen! Wenn ich JA sage, dann soll es auch ein wirkliches JA sein, auf das du dich verlassen kannst. Und dann nach einer längeren Denkpause sagte ich: JA!
Geradezu andächtig löste Dieter (inzwischen hatte wir uns mit Namen bekannt gemacht) einen seiner Armreife und befestigte ihn an diesem meinem rechten Arm – hier!! Spontan nahm mich dann der mir eben noch völlig unbekannte Mensch aus einer mir fremden und völlig anderen Welt in seine Arme, drückte mich so fest er todkrank konnte und sagte: „Jetzt habe ich wieder einen Bruder!“
Beide tief bewegt hielten wir uns eine gute Zeit so umarmt. Wieder nebeneinander sitzend fragte ich dann diesen Bruder Dieter: „Wie bist du eigentlich darauf gekommen, gerade mich anzusprechen?“ Seine Antwort: „Du bist seit langem der erste aus der anderen Welt, der uns Penner mit guten Augen angesehen hat!“
Der Schreck fuhr mir in die Glieder: Welch ein Glück für mich und diesen Menschen, dass wir so gut geistlich vorbereitet in diesen Tag gegangen sind! Nicht auszudenken, wenn ich an diesem Tag „schlechte“ Augen gehabt hätte – wie an so vielen anderen Tagen des Jahres.
Und damit bin ich wieder an der Krippe des Gotteskindes! Gott selbst ist Mensch geworden, damit wir Menschen die guten und liebenden Augen unseres Gottes sehen können! Ich möchte uns allen wünschen, dass das Gotteskind selbst uns solche dauerhaft guten Augen schenken möge! Augen, die die oft verborgene und doch quälende Not des Mitmenschen wahrnehmen!
Uns hat die letzten Tag im Pfarrhaus ein schreckliches Ereignis erschüttert und bewegt: Der 15 jährige Sohn einer uns bekannten, gut bürgerlichen und christlichen Familie hat sich 5 Tage vor Weihnachten aufgehängt und das Leben genommen!
Jedermann hier heute kann es sich unschwer vorstellen: Nun fragen sich Eltern, Geschwister, Freunde, Nachbarn und Lehrer: Warum haben wir nicht von der offensichtlichen, schrecklichen Not dieses Jungen bemerkt? Wie konnten wir das nur übersehen?
Wenn ich Ihnen allen nun ein gutes Weihnachtsfest wünsche, dann meine ich damit: Dass uns gute, weihnachtliche Augen mit einer hellen und klaren Sichtweise geschenkt werden, die die Not der Menschen sehen – oder doch wenigstens so gut auf die Menschen blicken, dass diese sich ein Herz nehmen können wie der Dieter, und sich uns mit ihrer Not offenbaren. Und dieses „Weihnachten“ möge bitte nicht mit dem nadelnden Weihnachtsbaum entsorgt werden!
In diesem Sinn: Noch einmal: Ein starkes und ein ganzes Jahr hindurch anhaltendes „Frohe Weihnachten!“
Hans Sanders