Urban Heck (2004)
Auf der Suche nach Gott sitze ich bei Alkoholkranken auf einer Parkbank. Ein Mann links außen, in der Mitte eine halb liegende Frau und rechts ich. Seit drei Tagen gehöre ich irgendwie dazu. Die Frau will schlafen und beklagt sich, dass sie nicht schlafen kann. Ich esse in dem Moment einen Apfel und frage sie: „Sollen wir ein Schlaflied singen?“ Aber während ich noch kaue, beginnt sie in einer Art Singsang mit „Schlaf, Kindchen, schlaf“. Als sie abbricht, und als mein Apfel gegessen ist, beginne ich selbst zu singen, und plötzlich setzt sie sich senkrecht auf, schaut mich entgeistert an und fragt: „Woher kennst Du das?“ Ich antwortete: „Ich habe zwei Kinder“. Da erzählt sie – jetzt – hellwach, als hätte das Schlaflied die Schleusen eines Staudamms geöffnet: „Ich habe fünf Kinder, das jüngste ist mit zehneinhalb Wochen gestorben. Nachts um halb zwei haben sie aus der Klinik angerufen: Kommen Sie, wenn Sie ihren Sohn noch einmal sehen wollen. Ich bin mit dem Taxi hingefahren. Da haben sie mir das Kind in den Arm gelegt – und tschüss. Schön, gell?“ Sie schaut mich an, und ich kann nur sagen: „Scheiße“. Sie wiederholt, als wäre es ihr Refrain: „Die haben mir das Kind in den Arm gelegt – und tschüss. Schön, gell?“ Mir bleibt nur, wieder zu antworten: „Scheiße“. Mit Tränen in den Augen spricht sie von ihrem verstorbenen Sohn und von der Fahrt durch die Nacht, als wäre es gerade letzte Woche und nicht vor vielen Jahren gewesen. Ich spüre, wie ich selbst traurig werde, und dass meine eigene Trauer hochkommt, meine schlummernde Trauer um meinen zehnjährigen Neffen Daniel, der vor sieben Jahren unerwartet schnell gestorben ist. Die Frau bricht ihre Erzählung resigniert ab: „Aber das interessiert euch ja nicht“. Der Mann zu ihrer Linken bemüht sich abzulenken: „Reden wir über was anderes.“ Mir reicht es, ich habe genug für heute. Einer Alkoholikerin habe ich zu verdanken, dass ich nun weiß: Ich habe mit Gott noch eine alte Rechnung offen. Ich spüre Trauer und Wut über Daniels Tod.
Abends nach dem Gottesdienst beim Austausch mit der Gruppe erzähle ich und frage mich, wie es weitergeht, wie ich weitergehe. Vorschläge, wo der Weg für mich weitergehen kann: In einer Kinderklinik, im Friedhof an einem Kindergrab oder mit der Geschichte von einem David, der mit zwölf Jahren im Ferienlager tödlich verunglückte und daheim beerdigt wurde. Am nächsten Morgen male ich beim Morgenimpuls mit Straßenmalkreide ein Labyrinth in den Innenhof. Wir hören die Emmausgeschichte, gehen ins Labyrinth und beten dort. Dann gehe ich zur U-Bahnstation und nehme die nächste U-Bahn, die fährt. Im Zug entscheide ich, da auszusteigen, wo Kinder aussteigen. Aber kein einziges Kind ist im ganzen Wagen. Erst Stationen später steigt eine Familie ein, und als die aussteigt, gehe ich in die gleiche Richtung, und lande schließlich in einem Park. Dort spielen drei Jungen Verstecken, und ich male für sie mit meiner restlichen Straßenmalkreide. Sie kommen und fragen: „Was machst Du da?“ Ich lasse sie raten, und sie kommen von selbst darauf, dass ich ein Labyrinth aufs Pflaster male. Etwas später sitze ich auf der Bank daneben und lese über das verstorbene Kind David. Nun kommen die neugierigen Jungen zurück und gehen durch das Labyrinth, gehen rein und raus, spielen damit. Ich lese von diesem David, der daheim in Berlin gut verabschiedet und dann beerdigt wurde. Mir fällt es wie Schuppen von den Augen, dass ich mich von meinem Neffen Daniel nicht richtig verabschiedet habe. Über drei Jahre lang habe ich selbst beerdigt, Trauernden geraten, sich zu verabschieden, aber ich selbst habe mich nicht verabschiedet von Daniel, ich bin in der Mitte meiner Trauer hängen geblieben. Da sehe ich, wie einer der Jungen den übrigen Kreidestummel nimmt und in die Mitte des Labyrinths schreibt „ANFANG“. Ja, genau das ist es: Ich bin in der Mitte meiner Trauer, denn ich habe mich nicht von Daniel verabschiedet. Jetzt muss ich das tun, jetzt muss ich mich irgendwie verabschieden von Daniel. Das muss ich machen. In dem Moment kommt von links eine ältere Frau mit einem Kind, etwa ein Jahr alt. Das Kind läuft tapsend mitten über das Labyrinth, kommt zu meiner Parkbank und schaut mich erwartungsvoll an. Ich sage „Hallo“. Die Frau ruft ungeduldig: „Daniel, komm, wir gehen“. Ich halte inne – unglaublich, in der Mitte meiner Trauer, meines Tun-Müssens kommt ein kleiner Daniel. Und als ob Gott, der für mich sorgt, noch deutlicher mit dem Zaunpfahl winken wollte, ruft die Frau auch noch: „Daniel, sag‘ tschüss“. Heiß und kalt lief es mir den Rücken herunter. Ich habe das auf mich bezogen. Ich beuge mich zu Daniel, streichele ihm sanft über den Rücken und verabschiede mich so von meinem Daniel: „Tschüss, Daniel“. Dann ging der kleine Daniel. So habe ich meinen Neffen dem Gott anvertraut, der für mich sorgt, und der mich begleitet. Der Ort war ein profaner Platz im Park, und gleichzeitig war das für mich heiliger Boden, so heilig wie der Boden am brennenden Dornbusch. Noch jetzt, Monate danach, wenn ich davon erzähle, wenn ich versuche das Wunder in Worte zu fassen, noch jetzt berührt es mich.