Egalisierung und Versammlungsfreiheit

Die Egalisierung der Innenstädte, Fußgängerzonen, Bahnhöfe und Flughäfen hat zu der Vorstellung geführt, Öffentlichkeit gäbe es nur dort, wo es auch Konsum gibt. Dass das nicht stimmt, zeigt das aktuelle BGH-Urteil zur Demonstration vor dem Abschiebeknast des Berliner Flughafens.

Keine Öffentlichkeit für Hässlichkeit und Elend

Unangenehme Orte wie Gefängnisse oder Flüchtlingsheime passen nicht in die egalisierten Städte, sie sind an hässlichen und unwirtlichen Orten, am Stadtrand oder in Gewerbegebieten. Auch wenn sie umzäunt oder hässlich sind, sie sind trotzdem öffentlich. Man darf sich dort verfassungsgemäß versammeln und gegen Unrecht demonstrieren. Die Demonstranten halten die Hässlichkeit aus.

Das jüngste BGH-Urteil hat die Versammlungsfreiheit gestärkt. Vor dem Abschiebegewahrsam am Berliner Flughafen dürfen jetzt doch Mahnwachen abgehalten werden. Öffentlicher (Straßen-)Raum ist demnach nicht erst dann öffentlich, wenn er zum Flanieren, Verweilen und Kommunizieren einlädt. Das „Fraport-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 2011 hatte Demonstrationen am Frankfurter Flughafen für rechtens erklärt, weil der Flughafen einem Marktplatz ähnle. Der Berliner Flughafenbetreiber wollte das nutzen: das Gelände rund um den Abschiebegewahrsam sei ja eher ein Gewerbegebiet als ein Marktplatz. Schließlich gibt es dort keine Cafés oder Läden, die zum Verweilen und zur Kommunikation einladen.

Öffentlichkeit durch Konsum

Dahinter steckt die Vorstellung, dass gesellschaftliche Zusammenkunft und Kommunikation mit Konsum gleichzusetzen sind. In den letzten 20 Jahren sind zunehmend Orte entstanden, die sich zwar in verschiedenen Städten und Gebieten befinden, aber zum Verwechseln ähnlich aussehen. Die großen Textil – und Systemgastronomieketten beherrschen die Innenstädte. In deutschen und europäischen Städten findet man verblüffend ähnlich aufgebaute Einkaufszentren, mit denselben Läden und Gastronomieangeboten, fast identisch aussehende Fußgängerzonen. Die Innen- und Wartebereiche der größeren Bahnhöfe kann man kaum voneinander unterscheiden. Würde man mit verbundenen Augen an einen dieser Orte geführt und öffnete dort die Augen – man wüsste nicht, wo man sich befindet.

Besonders auffällig ist dieses Phänomen in den Flughäfen. Egal, wo man abfliegt oder ankommt, man findet dieselben Läden, dieselben Cafés und Restaurants – bis hin zu denselben Schriftarten, Symbolen und Farben auf den Wegweisern zu den Gates und denselben Sicherheitsansagen aus den Lautsprechern.

Nicht-Orte

Der französische Anthropologe Marc Augé bezeichnete solche mono-funktional genutzten Flächen im urbanen und suburbanen Raum als „Nicht-Orte“. Sie haben keine Geschichte, keine Relation oder Identität und sie sind kommunikativ verwahrlost. Es gibt dort keine echte Kommunikation, denn es gibt nichts zu Besprechen, keine ungeklärten Fragen. Eingecheckt, Sicherheitsschleuse passiert („Haben Sie einen Laptop dabei? Flüssigkeiten?“), Produkt gewählt, Produkt bezahlt: „Have a good flight!“ Mehr Kommunikation ist an Flughäfen nicht zu erwarten.

Wer konsumiert, fragt nicht nach

Niemand sagt: „Haben Sie schon den Starbucks-Store da vorne gesehen? Das ist ja mal etwas Neues!“ – Denn den hat jeder schon überall gesehen. Bei McDonalds sind die Burger auch überall gleich. Menschen sollen nicht einfach auf ihren Anschlussflug warten, sie sollen währenddessen einkaufen. Die Betreiber der Einkaufszentren und der Flughäfen wollen, dass die Fluggäste Geld ausgeben. Das hat nichts mit Kommunikation zu tun. Sie sollen sich nicht langweilen. Zweckfreie Orte und Zeiten sind gefährlich, weil dann nicht konsumiert wird. Man muss die Leute beschäftigen, sonst fangen sie an, Dinge in Frage zu stellen.

Demonstrierende stellen fragen

Wer eine Mahnwache gegen das Unrecht der Abschiebegefängnisse und des sogenannten Flughafenverfahrens macht, der stellt Dinge in Frage, will aufmerksam machen auf die Orte, die nicht konsum-ideologisch egalisiert sind. Daher sind Abschiebeknast, Gefängnisse, psychotherapeutische Kliniken, Kasernen, Seniorenheime in den allermeisten Fällen absichtlich nicht da, wo die Leute konsumieren sollen. Sie sind an unwirtlichen und manchmal hässlichen Orten, am Stadtrand oder in Gewerbegebieten.

„Wenn man im öffentlichen Straßenraum demonstriert, ist es oft auch unwirtlich und hässlich“, sagte die Vorsitzende BGH-Richterin Christina Stresemann in der Begründung des Urteils.

An die hässlichen Orte gehen

Wer gegen Unrecht demonstriert, geht absichtlich an die unwirtlichen und vielleicht hässlichen Orte. Auf diese Weise solidarisieren sich die Demonstranten mit denjenigen, die gerade nicht gastfreundlich behandelt werden, die wohl nicht in das egalisierte Städtebild reinpassen sollen: die Flüchtlinge, die man direkt am Flughafen abfängt, um sie möglichst schnell zurückzuschicken – ohne dass sie je deutschen Boden betreten haben.

Wer herausfinden möchte, was im eigenen Leben zählt, welche Sehnsucht und welchen Auftrag er oder sie hat, geht an die unangenehmen, an die leeren Orte. Es sind Orte, die augenscheinlich keinen Zweck haben, an denen es nichts zu holen gibt. Diese Orte findet man in den egalisierten Innenstädten und Einkaufspassagen nur dann, wenn man keinen Geldbeutel dabei hat. Individualität und Identität kann man nämlich nur scheinbar kaufen.
In der Wüste kann man nichts kaufen

Wüste kann es auch in den Innenstädten geben. In der Wüste gibt es eben nichts zu Trinken. Trotzdem muss man manchmal in die Wüste gehen. Der Jesuitenpater Christian Herwartz ist untrennbar verbunden mit der Entstehung der Exerzitien (Geistlichen Übungen) auf der Straße. Er organisiert außerdem die Mahnwachen am Abschiebeknast und hat die Klage gegen den Berliner Flughafen geführt und gewonnen. Am Anfang der Straßenexerzitien steht die Einladung, nichts mitzunehmen auf die Straße: kein Proviant, kein Geld, wenn nötig die Schuhe auszuziehen und offen zu sein für das, was einem auf der Straße begegnen kann (vgl. Lukasevangelium 10,1-11). Wenn Jesus sagte, er selbst sei „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Johannesevangelium 14,6), bedeutet das in der Sprache der Straßenexerzitien: „Jesus ist die Straße“.

Solidarität mit den Ausgegrenzten

Wie Mose am brennenden Dornbusch, der brennt und nicht verbrennt, halten die Demonstrierenden am Abschiebeknast die Schmerzen und die Leere des Ortes aus. Deswegen müssen sie auch direkt, unmittelbar vor dem Abschiebegewahrsam stehen – und nicht auf der anderen Straßenseite. Sie gehen ganz nah ran. Mose geht in die zunächst lebensverneinende und gefährliche Wüste, weil er eine Sehnsucht in sich spürt. In der Leere der unwirtlichen Wüste begegnet er im Gewöhnlichen, im Langweiligen, nämlich einem brennenden Dornbusch, dem Außergewöhnlichen, nämlich der Liebe Gottes. Mose erfährt dort seine Berufung und die seines Volkes: Er soll das Volk aus dem Exil herausführen. Er solidarisiert sich mit denen, die ausgegrenzt und gefangen sind – so tun es auch die Demonstrierenden bei der Mahnwache.

Schmerzen aushalten, in Scherben treten

Die Schuhe auszuziehen, wie Mose es am Dornbusch tut, bedeutet gleichsam, einen Schritt zurück zu treten, anzuerkennen, dass dort etwas ist, was ich vielleicht nicht verstehe und vor dem ich Ehrfurcht habe: Gott ist im Gewöhnlichen, Gewohnten, Alltäglichen, auch in der Langeweile und dem Aushalten von Schmerzen. Er will sich genau dort zeigen, wenn man denn hinsieht und hinhört. Der Übende ist bei den Straßenexerzitien eingeladen, offen zu sein für solche Orte – auch in der Stadt, an denen Armut und Leid vorkommen.
So öffnen sich auch die Demonstrierenden auf der Straße für das Unrecht, was dort geschieht. Indem man an diese Orte geht und dort die Schuhe auszieht (ob die echten oder im übertragenen Sinn), riskiert man, in Scherben oder Schmutz zu treten und sich zu verletzen. Die Verletzungen und die Schmerzen auszuhalten, bedeutet, sich mit denen zu solidarisieren, die Unrecht am eigenen Leib erleiden. Es bedeutet, das echte Leben auszuhalten, das nicht auf Hochglanz poliert ist.

© Matthias Alexander Schmidt
hinsehen.net-Redaktion

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