Zum ersten Mal habe ich im Jahr 2001 teilgenommen. Zehn Tage bin ich auf die Straße gegangen, habe Ausschau gehalten nach Gott. Einmal saß ich zwei Stunden im Park zwischen zwei mir unbekannten alkoholisierten Männern, die mich begrüßt hatten mit:“Auf dich haben wir gewartet!“ Ich hatte an diesem Tag eine denkbar schlechte Stimmung, fühlte mich hohl und leer, ziellos und genervt. Ich hatte nichts zu bieten, ganz sicher nichts in irgendwelchen menschlichen Kontakten. Das Angebot der beiden nahm ich an, hockte mich müde zwischen sie, nuckelte an meiner Wasserflasche wie sie an ihrem Bier. Wir wechselten gelegentlich Ein- bis Dreiwortsätze. Meistens aber schwiegen wir. Sie hatten genauso wenig zu bieten wie ich und machten keinen Hehl daraus. Da entstand etwas zwischen uns jenseits der Worte, gerade im Ausgelaugtsein, in der Erschöpfung, im müden Schweigen. Als ich nach zwei Stunden weiter ging, war ich auf eigenartige Weise getröstet und belebt. Da habe ich eine lebendig machende, sich Jahr für Jahr vertiefende Gottesspur entdeckt: Ich darf sein – ohne (Vor-) Leistung, ohne intellektuelle Schminke, ohne emotionale Kontur, ohne Anspruch, ohne Wollen. Und dieses Da-Sein einfach zuzulassen – dazu haben mich die beiden ganz elementar angesteckt und mir etwas von Gottes großem Ja zu mir vermittelt. Noch jetzt im Schreiben steigt tiefe, warme Freude in mir auf in der Erinnerung an diese beiden Männer und was sie mir als persönliche Gottesbotschaft offenbarten.
Was aber sind Straßenexerzitien? Initiiert wurden sie im Jahr 2000 von der Gruppe „Ordensleute gegen Ausgrenzung“ aus Berlin. Seidem finden sie jährlich an verschiedenen Orten, auch über Deutschland hinaus, statt. In den Straßenexerzitien wird den Begebenheiten auf der Straße die besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die Die TeilnehmerInnen nehmen die Straße als Ort der möglichen Gottesbegegnung mit sehr wachen und aufnahmebereiten Augen, Ohren und Herzen wahrg und spüren ihrer inneren Resonanz nach. Die entrale Geschichte für Straßenexerzitien ist die Erzählung von Mose, der in der Wüste auf einen brennenden Dornbusch stößt, in dem Gott sich ihm offenbart als sein ganz persönlicher Gott (Ex 3). Für Mose ist es Alltag, wenn er die Schafe hütet, nichts Besonderes, dass ein trockener Dornbusch brennt. Aber als ein Dornbusch nicht aufhört zu brennen, folgt Mose seiner Neugierde, die durch Wachsamkeit geweckt ist, und tritt näher. Der Dornbusch steht für das Harte, Unbeugsame, Knorrige, Verdorrte und Stachelige in meiner Alltagswelt und auch in mir. Dies wahrzunehmen, anzunehmen und sich ein Mehr schenken zu lassen ist die Erfahrung des Mose, die uns ansteckt, uns unseren eigenen Dornbüschen zuzuwenden in Erwartung eines Mehr.
Um solche Prozesse zu erleichtern, beziehen die Teilnehmenden einfache Unterkünfte, in denen sie gemeinsam schlafen (Pfarrheim, Winterobdachlosenunterkunft, kleine Wohnung) und versorgen sich selbst. Die Exerzitien sind kostenlos, da die BegleiterInnen (pro Fünfergruppe eine Frau und ein Mann) ehrenamtlich ihr Mitgehen anbieten. Die konfessionelle Ausrichtung ist kein Kriterium für die Teilnahme – an den Straßenexerzitien kann teilnehmen, wer möchte.
Auch der Ablauf der Exerzitien ist einfach strukturiert: Mit einem von der Gruppe gestalteten Tagesimpuls beginnen die Teilnehmenden ihren Tag und sind anschließend über den Tag in der Regel alleine unterwegs, denn die Exerzitien sind Einzelexerzitien in der Gruppe. Privilegierte Orte der Gottesbegegnung sind die zufälligen, nicht geplanten Begegnungen auf der Straßen sowie Plätze, wo sich ausgegrenzte Menschen aufhalten – z.B. Drogenumschlagplatz, Agentur für Arbeit, Krankenhaus, Aids-Beratung, Suppenküche. Am späten Nachmittag finden sich alle wieder in der Unterkunft ein. Um 17 Uhr wird dort ein Gottesdienst angeboten, es folgt das selbst bereitete Abendessen. Anschließend findet das Gruppengespräch statt, in dem die Teilnehmenden ihre Tageserfahrungen erzählen und die gesamte Gruppe eingeladen ist, darauf zu reagieren. Verbindlich ist während der Exerzitien nur das Gruppengespräch.
Es gibt drei Impulse in diesen Tagen. Am Anfang steht die Frage nach der eigenen Sehnsucht und dem damit verbundenen persönlichen Gottesnamen. Nach einigen Tagen wird die Geschichte von Mose am Dornbusch als Wegbegleitung und Deutungshilfe für das Geschehen des Tages angeboten. Und gegen Ende steht die Emmauserzählung (Lk 24) im Vordergund. Die Exerzitien enden mit einem gemeinsamen Gottesdienst in einer Gemeinde oder einem anderen Kreis von Glaubenden.
Was erfahren Menschen in diesen Tagen? Das ist sehr unterschiedlich und sehr persönlich. Alle werden in diesen Tagen stiller, gesammelter, wacher. Viele erzählen von ihrem Erlebnissen, denn unsere Gotteserfahrungen sind nicht unser Privateigentum, sondern sind oft bewegend und ansteckend für die Zuhörenden. Zudem werden sie vom Erzählenden oft noch einmal neu und anders erfahren. Die eine erlebt in der Auseinandersetzung um ihrem Arbeitsplatz durch die Begegnung mit Menschen auf dem Friedhof eine deutliche Aufforderung, sich Sterbenden zuzuwenden und erfährt die Verstorbenen als Verbündete und wie Engel. Ein anderer sieht sich versetzt in die Trauer um ein verstorbenes Kind und erlebt in der Begegnung mit einem gleichnamigen Kind und dessen Mutter Trost und Erlösung von seinem Schmerz. Wieder eine andere erinnert im Überqueren einer weitgespannten Brücke, die ihr Angst macht, alte Ohnmachtserfahrungen und wird spontan von zwei Menschen über diese Brücke begleitet. Plötzlich verändert sich eine große Angst und im Erleben von so konkreter Begleitung scheint Gott als treuer Begleiter auf.
In diesem Jahr wird zum zweiten Mal ein Kurs von Frauen für Frauen angeboten. Aus langjährigen Erfahrungen wurde deutlich, dass es immer wieder Frauen gibt, die ihre Schönheit und ihre Lebendigkeit zurückhalten, wenn Männer dabei sind. Manchen mögen auch nicht über schmerzhafte Dinge reden, wenn Männer anwesend sind. Ziel dieses Kurses ist es, Frauen im Rahmen der Straßenexerzitien einzuladen, ihrer Wahrnehmung zu trauen und sich mehr auf diese Welt und ihr Sosein einzulassen.
Damit sie ein wenig Geschmack an dieser Form der geerdeten Exerzitien finden, lade ich sie zu einer kleinen Übung ein, die etwa vier Stunden dauert und die sie in einer ihnen vertrauten oder auch neuen Gruppe machen können. Hintergrund dieser Übungen sind folgende Überlegungen: Wir alle tragen Sehnsüchte in uns. Diese haben wir uns nicht ausgesucht, sie sind einfach da. Durch die Frage nach der Wut, der Traurigkeit oder der Erstarrung kommen wir ihr sozusagen umgekehrt etwas näher. In dieser Sehnsucht verbindet sich Gott mit uns, denn er hat sie in uns gelegt als einen ganz wesentlichen Teil von uns. Daher können wir nach einem Namen für ihn suchen, wie er gerade von mir angeredet werden möchte als mein Gott.
Ein Beispiel: Da ist eine Frau,die reagiert jedesmal sehr ärgerlich, wenn ein Mensch in ihrer Umgebung übersehen wird. Sie erkennt dahinter ihre eigene elementare Sehnsucht, gesehen und wertgeschätzt zu werden von Menschen, mit denen sie zu tun hat. In der Gruppe kristallisiert sich mehr und mehr eine Anrede Gottes heraus: „Gott, der/die du mich liebend anschaust!“. Im Mitgehenlassen dieses Satzes wächst ihre Selbstachtung.
Ein anderes Beispiel: Einer spürt regelmäßig eine große Wut, wenn ihm oder einer anderen Person Dinge unterstellt werden, die nicht stimmen oder die sehr pauschal und reduzierend sind. In ihm ist eine Sehnsucht, nicht verurteilt zu werden, nicht als Verlierer dazu stehen. Die Gruppe erspürt mit ihm den Namen Gottes: „Du, der/die du lieber selbst den letzten Platz einnimmst, als dass ich ihn bekomme!“. Dass der letzte Platz durch Gott besetzt ist, befreit ihn zur Selbstannahme mit seinen Schwächen und Fehlern.
Übung in der Gruppe: Treffen sie sich als Gruppe zum Beginn dieser Einheit und stimmen sie sich mit einem Lied ein.
Nehmen sie sich etwa ein bis zwei Stunden Zeit, gehen sie – jede/r für sich allein – nach draußen. Lassen sie die Frage mitgehen: Was macht mich regelmäßig wütend oder traurig? Was lässt mich erstarren?
Wenn sie fündig geworden sind, fragen sie sich: Wie hätte ich es denn gerne? Welche Sehnsucht steckt in dem, was mich lähmt, was mich traurig oder wütend macht?
Kommen sie zu einem vorher festgelegten Zeitpunkt wieder mit ihrer Gruppe zusammen und teilen sie diese Erfahrungen mit ihrer Gruppe. Nehmen sie sich etwa zwei Stunden Zeit, damit jede/r zu Wort kommen kann. Wenn eine erzählt, spüren die anderen bei sich nach, welche Wirkung ihre Worte, ihre Gesten, ihre Mimik auf sie hat und stellen sie ihr dies wertschätzend zur Verfügung. Nachdem eine erzählt hat, schauen sie gemeinsam hin: Welcher Name Gottes verbirgt sich hinter dieser Sehnsucht? Wie kann sie ihren Gott ansprechen als ihren ganz persönlichen Gott?
Gehen sie mit diesem gefundenen eigenen Namen Gottes durch die nächste Woche. Vielleicht ist es möglich, nach der Woche mit der einen oder anderen aus der Gruppe über das zu sprechen, was mit dem Namen Gottes in ihr geschehen ist.
Für manche ist die Erzählung von Hagar, der Magd Sarais hilfreich (Gen 16). Diese erfährt ihren Gott als den, der nach ihr schaut, in einer existentiell verunsichernden Situation. Die Geschichte können sie vor oder nach ihrer gemeinsamen Austauschzeit vorlesen oder erzählen.
in: EFiD (Evangelische Frauen in Deutschland), Arbeitshilfe zum Weitergeben, Juli 2010